Frankfurter Niveau in Holland

Mein erster Gedanke: 'Ein guter Tag, um Meister zu werden.' Schon um kurz nach acht morgens lädt ein kaiserwetterlich strahlender Himmel zum Frühstück im Freien ein. Eine auffrischende Seebrise trägt das Rauschen des Meeres hinüber und die Kinder, die wie jeden Morgen mit ihren Holland-Rädern um den kleinen Kreisel unterhalb der Terasse wettrennen, sie tragen heute alle rote Alkmaar-Shirts. Der zweite Gedanke: 'Das kann gar nicht gut gehen!' Alkmaar steht die ganze Saison auf einer der ersten drei Tabellenpositionen. Sie spielen attraktiven Offensivvoetball, in diesem Jahr besser als Ajax oder PSV. Das sind die indirekten Gegner an diesem Sonntag, an dem eigentlich gegen Excelsior gewonnen werden muss. Excelsior, eine mannschaft so klein und unbekannt, selbst der gemeine Niederländer hat Schwierigkeiten, sie auf der Fußballlandkarte korrekt zu orten. Ergebnis ist egal, es fehlt noch ein Sieg und das kleine Alkmaar wird die Imperialisten des KNVB in die Schranken gewiesen haben, wird Meister sein.
Zwei Stunden vor Spielbeginn geht es mit dem Rad in die Innenstadt. Weil Alkmaar über keine nennenswerte Vorstadt verfügt heißt das: 8 Kilometer durch idyllische Marschen. Das Wetter wird immer triumphaler, immer mehr Menschen mit versonnenem und zugleich konzentrierten Blick streben der öffentlichen Radioübertragung auf dem Rathausplatz entgegen. Es wird gewitzt, man reicht Amstelflaschen herum, ist vor dem Spiel schon nach dem Spiel? Ich sehe die Zuversicht ausstrahlenden Augen von Zwölfjährigen. Ich kenne dieses prä-viktorale Gefühl genau, kann für einen Moment sogar mitempfinden, aber in der gleichen Sekunde ist der einzige andere, sich ständig wiederholende Gedanke: 'Rostock. Das kann gar nicht gut gehen. Ihr bekommt heute das größte Trauma verpasst, dass ein Vereinsanhänger mit sich tragen kann.' Ich lerne noch die Vereinshymne auswendig: "Tärett, Tärett, Tärett, AZ!!" 14.30 Uhr, jetzt ist Anpfiff. Man hört sowas oft bei wichtigen Länderspielen, Berlin, Hamburg oder irgendeine andere x-beliebige Stadt ist 'wie ausgestorben', in Wirklichkeit sind die Schlangen im Supermarkt nicht so lang wie sonst. In Alkmaar sind die Bürgersteige jetzt wirklich hochgeklappt. In letztem Moment finden wir einen Stehplatz in einer hoffnungslos überfüllten Kneipe. Ein winziger Algerier quetscht sich ständig vor mir an die Bar und wieder zurück zu seinem Platz, um Zigaretten anzuzünden oder auszudrücken. Sonst ist jetzt alles eine bangende Masse. Den Spielern hängt das Herz in der Hose: Rostock. Ein Querpass im Mittelfeld folgt dem nächsten: Rostock. Nach zwanzig Minuten keinen Angriffszug halbwegs abgeschlossen: Rostock. Excelsior geht in Führung: Rostock. Simon Cziommer, der einzige deutsche Feldspieler der Eredivisie haut einen Freistoss zum Ausgleich rein. Rostock ist weggeblasen. Unglaublicher Lärm, ich bin kurz davor meine Staatsangehörigkeit zu offenbaren. So fühlt sich das also an, wenn man es am Ende doch noch schafft. Der Pub wird nochmal voller. Wir ziehen zurück zur großen Radiokonferenz. Es ist kein Wort zu verstehen, es passiert in der zweiten Halbzeit lange nichts. Rostock? Eine ältere Dame spricht mich auf holländisch an, erklärt mir auf englisch die Bedeutung des Spiels, ich beschließe, darauf zu verzichten sie über meinen schlimmen Verdacht aufzuzklären. Plötzlich ein Urschrei. Alkmaar auf der Siegerstrasse. Kurz farauf nochmal, es kann nichts mehr schiefgehen. Leuchtfackeln werden gezündet, Alkmaar-Ultras rennen wild durcheinander. Noch zehn Minuten. Auf einmal wird es ruhig. Die Menschen stehen mit Telefon am Ohr und sich leerendem Blick auf ihrem Rathausplatz. Der PSV und Excelsior haben simultan eine Schlussoffensive gestartet. Alkmaar ist der sichere Titel in letzter Minute entglitten. Die frisch geleerten Bierbecher füllen sich mit Tränen. Die Polizei verliert ihr Lächeln und fährt jetzt doch die Mannschaftswagen auf. Die Tragödie ist perfekt, Alkmaar erlebt seinen schwärzesten Tag in der jüngeren Geschichte. In mir kommen Selbstzweifel auf, hätte ich mich nicht allein schon aufgrund des bösen Omens von 1992 heute aus der Stadt fernhalten und sie friedlich Meister werden lassen sollen? Schnell zurück aufs Fahrrad, nichts wie weg jetzt. Auf dem Heimweg erfahren wir, dass wenigstens die Dorfmannschaft aus Egmond gewonnen hat. Trotzdem bleiben heute abend die umliegenden holländischen Grills kalt. Am nächsten morgen werden wir von einer Big-Band geweckt: Koniginnendag. Lebbe geht weider...
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